Hauptmann und Erkner

Von Berlin nach Erkner
Marie und Gerhart Hauptmann kamen, gerade fünf Monate verheiratet, im Herbst 1885 nach Erkner.
Der Umzug von ihrer ersten Wohnung (Berlin-Moabit) hierher war vornehmlich Gerharts angeschlagener Gesundheit geschuldet. Bei ihm hatte sich wiederholt Bluthusten eingestellt, was auch zu seiner Befreiung vom Militärdienst geführt hatte. „Ich mußte aufs Land, das war mir klar“, schreibt er rückblickend im „Abenteuer meiner Jugend“, „sofern es mit mir nicht schnell bergab gehen sollte. (…)
Diesem Wechsel des Wohnortes verdanke ich es nicht nur, daß ich mein Wesen bis zu seinen reifen Geistesleistungen entwickeln konnte, sondern daß ich überhaupt noch am Leben bin.“ Zudem war Marie zu dieser Zeit bereits schwanger. Der erste Sohn, Ivo, wurde im Februar 1886 in Erkner geboren, es folgten Eckart (1887) und Klaus (1889).
Die Villa Lassen
Das junge Paar – Marie 25, Gerhart kurz vor seinem 23. Geburtstag – bezog die untere Etage der damals noch am Ortsrand gelegenen Villa von Nicolaus Lassen, einem Dorfhandwerker, der seinen Ruhestand durch Mieteinnahmen finanzierte. Außer dem Ehepaar Lassen wohnte in der oberen Etage des Hauses Hermann Haché, ein heute unbekannter Schriftsteller, mit seiner Frau sowie zeitweilig Marie Heinze, die bei Hauptmanns als Waschfrau arbeitete, mit ihrem Mann.
Das Leben in Erkner und der Villa Lassen hat Hauptmann zu seiner Komödie „Der Biberpelz“ (1893) inspiriert, in der er diese und weitere Personen aus dem Ort verewigt hat. So wurde Marie Heinze zum Vorbild für die Mutter Wolffen, der Hauswirt für den Rentier Krüger, Haché für Motes und der hiesige Amtsvorsteher Oscar von Busse für Wehrhahn. Wie sein literarisches Abbild argwöhnte Letzterer bei dem jungen Künstler revolutionäre Umtriebe: So machte sich Hauptmann – in Zeiten des geltenden Sozialistengesetzes – mit dem Abonnement einer sozialdemokratischen Zeitschrift verdächtig, zudem empfing er regelmäßig freigeistige Gäste und bedachte seine Hausgenossen wie auch das Dienstmädchen mit Weihnachtsgeschenken.
Das Misstrauen des preußischen Beamten von Busse führte sogar so weit, dass er Haché als Spitzel auf den Familienvater ansetzte. Auch dies hat der Autor später im „Biberpelz“ verarbeitet, indem er sich selbstironisch in der Figur des Privatgelehrten Dr. Fleischer verfremdete. Im zweiten Erkner-Jahr schließlich wurde der inzwischen zweifache Vater als Zeuge in einem Prozess gegen einstige Gesinnungsfreunde nach Breslau geladen, ließ sich aber zu keinem Bekenntnis oder Verleumdungen hinreißen. Aus Angst vor weiterer Verfolgung reisten Hauptmanns Anfang 1888 zu Gerharts Bruder Carl nach Zürich ab, von wo sie erst im Herbst wieder nach Erkner zurückkehrten.
Impressionen durch das Leben in Erkner
Für Hauptmanns Entwicklung zum Schriftsteller kommt dem brandenburgischen Ort eine zentrale Bedeutung zu. Hier begann er sich für das Leben der einfachen Leute zu interessieren und die Routine seiner „Produktivspaziergänge“ zu kultivieren. Gleichzeitig jedoch litt er weiter an seiner bedrohlichen Lungenkrankheit: „Ich wollte kein größeres Werk beginnen, weil das Gespenst meines Bluthustens mir zuraunte, daß ich es nie beenden würde.“
Individuelle Schicksale, Landschaftseindrücke und Todesmotivik fanden ihren Ausdruck in den 1887 entstandenen Novellen „Fasching“ und „Bahnwärter Thiel“, die beide in Erkner und Umgebung angesiedelt sind. In „Fasching“ erzählt Hauptmann vom tragischen Tod einer dreiköpfigen Familie. Die Novelle geht zurück auf einen realen Fall, der den Autor sehr bewegt hatte: Bei der nächtlichen Überquerung des zugefrorenen Flakensees war im Februar 1887 ein Schiffbaumeister mit seiner Familie in der offenen Stelle eines Zuflusses ertrunken. Auch das erschütternde Unglück des Bahnwärters, dessen Kind vom Zug überfahren wird, könnte sich tatsächlich hier in Erkner ereignet haben, wofür es aber keine gesicherten Quellen gibt. Beide Texte wurden zuerst in naturalistischen Zeitschriften veröffentlicht. Der Erstdruck des „Bahnwärter Thiel“ in der „Gesellschaft“ (1888) gibt übrigens Zürich als Wohnort des Verfassers an, nicht Erkner.
Das dritte wichtige Werk Hauptmanns entstand nach dem Zürich-Aufenthalt: sein erstes soziales Drama „Vor Sonnenaufgang“, das im Oktober 1889 in Berlin uraufgeführt wurde – kurz nachdem die Familie Hauptmann Erkner verlassen hatte. „Ich preise jeden Tag das Schicksal, aus der Erkner-Öde befreit zu sein“, schrieb Marie an ihre Schwester Martha.
Hauptmanns Rückblick auf sein Leben in Erkner
Maries Erleichterung wird von den damaligen Erkneraner Verhältnissen her verständlich. Die Winter waren hart und voller Monotonie für die junge Familie Hauptmann. Es gab kaum kulturelle Ablenkung, kein elektrisches Licht; zwei Schlittenhunde bewachten das Haus, während sich nachts die Holzdiebe herumtrieben.
Dennoch behielt Gerhart das Leben in der dörflichen Abgeschiedenheit in romantischer Erinnerung. So schreibt er 1937 in seiner Autobiografie: „Ich weiß, daß die Flucht in die märkische Waldeinsamkeit meine Rettung war. Ich fühlte das bei jedem Atemzuge, bei jeder Wanderung, die ich unternahm, ich spürte es, wenn ich als einziger bei Mondschein auf dem verlassenen Karutzsee Schlittschuh lief.“ Hiervon spricht das Gedicht „Eislauf“, eines von vielen, die vor und während der Erkner-Zeit entstanden. Hauptmann fasste sie in dem Lyrikband „Das bunte Buch“ (1888) zusammen, von dem jedoch wegen eines Verlegerkonkurses nur wenige der bereits gedruckten Exemplare ausgeliefert wurden.
Erkners Einfluss auf Hauptmanns Werke
Der prägende Einfluss Erkners und seiner Umgebung auf Hauptmanns Werk lässt sich in seinen nächsten Stücken wie auch in späteren Texten erkennen. Sein zweites Drama „Das Friedensfest“ (1890) ist „auf dem Schützenhügel bei Erkner“ angesiedelt. In „Einsame Menschen“ (1891) ist die Handlung zwar nach Friedrichshagen verlegt, die Bühnenanweisung jedoch orientiert sich an Hauptmanns Wohnzimmer in Erkner. Die Schmiede in der nordöstlich gelegenen Gemeinde Kagel gab den Schauplatz der als Fortsetzung des „Biberpelzes“ konzipierten Tragikomödie „Der rote Hahn“ (1901), ihr Besitzer Berthold Dalibor wurde zum Vorbild für den Schmiedemeister Langheinrich. Die Anregung zu diesem Stück kam von Hauptmanns Schwager Moritz Heimann (1868–1925), der in Kagel lebte und aufgewachsen war.
Für das neunte „Abenteuer“ des „Till Eulenspiegel“-Epos (1928) wählte Hauptmann die vom Erkneraner Friedhof nach Südosten führende Alte Poststraße als Handlungsort, die er oft zu Spaziergängen in den Wald genutzt hatte. Unter den Prosawerken Hauptmanns ist es vor allem der Zirkusroman „Wanda“ (1928), in dem der Ort und die Gegend Erkners beschrieben werden. Am Ende des Romans sucht eine der Figuren den Freitod im Karutzsee.
Hauptmanns letzter Besuch - Erkners Wandel mit der Zeit
1942 besuchte Hauptmann seinen einstigen Wohnort ein letztes Mal. Erkner war zu einem Standort der Rüstungsindustrie geworden. In der ehemaligen Villa Lassen befand sich die Gaststätte „Zum Biberpelz“. Die Ironie kommentierte der gealterte Dichter so: „Da in meinem Haus, wo ich in meinem ersten Drama (‚Vor Sonnenaufgang‘) Alfred Loth seine große Philippika gegen den Alkohol sprechen lasse, der alles zerrüttet (…) wo ich das schrieb, an der gleichen Stelle steht heute eine Theke!“ Damit nicht genug: Der in den 1920er-Jahren hinzugefügte Anbau beherbergte eine Brauerei. Das florierende Geschäft kam schließlich nach dem Bombenangriff vom 8. März 1944 zum Erliegen. Es sollte einige Jahre dauern, ehe sich die märkische Gemeinde wieder ihres prominentesten Einwohners erinnerte.